N – The Madness of Reason

nach zwei Jahren notgedrungener Pause habe ich mich wieder an eine, nur kleine, Film-Auswahl gewagt. Und gleich mit einem vielschichtigen, aber guten Film begonnen:
N – The Madness of Reason, geschrieben und gedreht von Peter Krüger, mit einem Text von Ben Okri.

Dieser Film entzieht sich der Kategorisierung eines Festivals: es ist nicht zu entscheiden, ob er dokumentiert oder eine erfundene und gespielte Handlung hat. Was er dokumentiert ist ein Zustand im Land Elfenbeinküste, aber auch Teile des Lebens eines französischen Abenteurers, Raymond Borremans (1906-1988), der ab 1924 in Afrika Musiker und Bestandsaufnehmender geworden ist. Letzteres deshalb, weil er aus innerem Interesse eine Enzyklopädie des französischen West Afrika erarbeitet hat. Der Film behandelt die Frage, warum diese mehrbändige Enzyklopädie nach 1983 nur bis zum Buchstaben N veröffentlicht worden ist, und was danach kommen wird.

Und hier beginnt dann auch eine erfundene Handlung: man wandert ab der ersten Einstellung an der Seite des Geistes von Borremans.
Die Frage, die ihn dabei umtreibt ist, wie sehr sich die Menschen eines fremden Kontinentes in ein westliches Denkschema fügen lassen. Die Antwort ist natürlich: gar nicht, und das belegen die Bilder von Kinovorführungen am Strand und aus dem Leben der aktuellen Jugend.
Bezeichnend ist, dass auf Borremans, der ab 1934 sein Leben dieser Enzyklopädie gewidmet hatte, nach 50 Jahren erst eine Afrikanerin zukommen musste, um diese enorme Wissens- und Bildersammlung für ihn zu publizieren. Da er sich für diese Hilfestellung aber nicht dankbar zeigte, wurde die Publikation nach dem Buchstaben N eingestellt. Borremans wurde von ihr mit einem Fluch belegt und er verstarb zwei Jahre später.

Der Filmemacher nahm diese Geschichte als Ausgangspunkt, um aus der Sicht der unruhigen Seele Borremans zu betrachten, was er alles falsch gesehen habe, und nicht in sein vermeintlich universelles Schema pressen konnte. Am Ende des Films wird die Publikation der Enzyklopädie wieder aufgenommen, was auch im realen Leben der Ausgang dieser Geschichte ist.

Der Film ist atemberaubend schön, mit viel Musik, einer beeindruckend agilen, grossen Schildkröte und er blickt in eine fremde, französisch geprägte Welt. Er ist ein Beitrag zur immer zu verneinenden Frage, ob man sich ein kolonisiertes Land ohne die kolonialen Einflüsse ansatzweise vorstellen kann. Er beleuchtet den Gegensatz von westlichem und afrikanischen Denken: vom Kategorisieren und Sammeln in geradlinigen Gedanken zur gefühlten Erkenntnis mit Gedanken auf gekrümmten Linien.

Der belgische Filmemacher hat sieben Jahre an diesem Film gearbeitet, und dabei alleine das meiste Bildmaterial gesammelt, ähnlich wie Borremans. Auch er brauchte erst einen (amerikanischen?, schwarzen) Ko-Autor, um den tragenden Text zu bekommen, der aus dem Off und aus dem Kopf Borremans zu kommen scheint.
Das Frappierende ist die Gleichzeitigkeit von „sammelnden“ Bildern und „fühlenden“ Worten, die trotzdem sehr gut zusammenfinden. Vermutlich weil jeder der Zuschauer schon daran gewöhnt ist, dass die Welten des Betrachteten und des Betrachters weit voneinander entfernt sein können. Und weil beide Methoden des Denkens so klischeebelastet sind, dass man sich auf eine Diskussion schon wieder einlassen kann.

Die Schildkröte, die zuerst an einem Bein festgebunden ist, läuft irgendwann, noch mit den Strick am Bein, davon. Vielleicht spiegelt das die Erkenntnis des Filmemachers, dass – mit meinem Bild gesagt – die Wortmaschine zwischen unseren Ohren nicht der Weg zu einer Zufriedenheit sein kann.

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Kommentare

2 Antworten zu „N – The Madness of Reason“

  1. Ulla

    Stefan!!! Toll, dass Du wieder dabei bist!

    Ich suche sofort, ob dieser Film noch bei mir reinpasst.

    Viele Grüße von Ulla

  2. micha

    Das ist eine wunderbare Besprechung für den Film, den ich gestern noch gesehen habe. Was erzählt der Mann den Kindern? Die Schildkröte geht langsam, aber sie kann sich immer befreien…

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