Die Piratenkönigin und ich (mit 12)

Mit 12 habe ich das erste Mal „Anne of the Indies“ gesehen, natürlich auf Deutsch unter dem Namen „Die Piratenkönigin“. Danach noch viele Male, kaum ein Film hat damals so einen starken Eindruck auf mich gemacht wie dieser.

Heute habe ich ihn (nach ?15? Jahren)  mal wieder gesehen, habe mich tierisch gefreut, ihn in der Retro zu finden, und war schon gespannt, wie er mir jetzt vorkommt. (Ist doch toll, dass ein und der selbe Film etwas ganz anderes bedeuten kann, je nachdem, in welchem Alter und welcher Lebenslage man ihn sieht.) Und weil der Film und ich so eine lange Geschichte miteinander haben, darf auch dieser Eintrag ein bisschen länger werden.

Erst heute habe ich gemerkt, dass der Film mehrere Geschichten erzählt. Eine (die moralische)  geht so:

Eine junge Frau wächst völlig verwahrlost  unter Piraten auf, und damit sie als Frau mithalten kann, macht sie alles noch viel draufgängerischer und brutaler als die Kollegen, verleugnet auf unnatürliche Art ihre Weiblichkeit und wird für eine kurze Zeit mit ihrem Schiff zum Schrecken der Karibik. Die Anständigen (Engländer) wollen ihrem grausamen Treiben ein Ende bereiten, sie stellen ihr eine Falle in Form eines schmucken jungen Mannes, in die sie prompt tappt, sich also verliebt und dadurch endlich zu einer „richtigen“ Frau wird,  d.h.: erst eitel, dann unvorsichtig, dann irrational, dann (als die Falle auffliegt) eifersüchtig und noch grausamer, am Schluss aber eben doch wieder sentimental und ihm bis zur Selbstaufgabe verfallen – wie Frauen eben so sind.  Da sie als  „richtige“ Frau in dieser Männerwelt nicht existieren kann, geht sie am Ende mit ihrem Schiff unter. End of story.

Die Geschichte, die ich mit 12 gesehen habe, ging so:

Das Mädel fliegt frei und wild und unbeschwert über die Meere, kann zwar nicht lesen aber toll fechten, und befehligt ein ganzes Schiff mitsamt Mannschaft. Sie sieht toll aus, nimmt sich, was sie will, hat vor nichts Respekt und kommt prima mit den Männern in ihrer Männerwelt zurecht. Alle Männer sind irgendwie Väter oder Dummköpfe, Frauen gibt es nicht. Eines Tages erbeutet sie ein englisches Schiff mit einem Gefangenen an Bord, der hübsch und klug ist, und, da gefangen, ein potenzieller Verbündeter. Er ist kein Vater:  den möchte sie gern als (Geschäfts-)Partner haben. Er lässt sich von ihr halb tot schlagen, das befeuert ihre Liebe noch mehr, so dass sie nachts nicht mehr schlafen kann. Auf einmal sind Kleider mit weitem Ausschnitt interessant. Sie lässt ihn gesundpflegen. Sie nimmt sich von ihm, was sie braucht. Sie vertraut ihm. Sie überwirft sich für ihn sogar mit ihrem bärigen,  herzlichen, wilden Piraten-Ziehpapa, der sie vor ihm warnt.

Nach einigen Wochen stellt sich heraus, dass der erbärmliche Wicht nicht nur ein Spion, sondern außerdem auch noch verheiratet (!) ist und seine Frau richtig liebt (!!), Anne als grausames Mannweib verachtet (!!!), mithin zu ihr also von A-Z falsch und verlogen war (!!!!). Anne tut das einzig Richtige: sie kidnappt das Zuckerpüppchen von Ehefrau (so rechtschaffen! so anständig! so anschmiegsam! – widerlich!)  und macht sich auf, um die kleine Schlampe auf dem nächsten Sklavenmarkt meistbietend zu verhökern. Aber die Tussi ist so sittsam, dass sich sogar die Sklavenhändler weigern, sie zu verkaufen. Also müssen sie zurück aufs Meer, und jetzt kommt der – verlogene, aber immer noch hübsche – Verräter angesegelt und will sein Weibchen befreien. Keine Chance – Anne schießt sein Schiff zu Klump und hat jetzt zwei Gefangene – aber das macht es nicht besser, denn jetzt schmachten sich die Beiden nur vor ihren Augen an.

Er will Anne wirklich nicht, er will so ein blödes Zuckerpüppchen, das ist unerträglich. Die Unschuld ist futsch, die Piratenfreunde sind weg, alles geht den Bach runter. Die beiden Turteltäubchen sollen dafür auf einer Sandbank im Meer elendiglich krepieren („Ihre Zunge wird blau und rauh werden, ihre Augen werden heraustreten. Du wirst zusehen, wie sie ihre Handgelenke an einem Stein aufritzt um ihr eigenes Blut zu trinken.“). Eine angemessene Rache  für den unsäglichen Verrat, wie ich (bis heute)  finde. Aber selbst Leute in den Tod schicken (bisher mit einem Fingerschnipsen) geht auf einmal nicht mehr, es gibt ihr Alpträume, und im letzten Moment muss sie umkehren. Um den Eheleuten die Flucht zu ermöglichen, verwickelt sie den vorbeikommenden Altpiraten in ein Gefecht und geht dabei mitsamt Schiff, Mann und Maus unter. Ein spektakulärer, fulminanter Selbstmord.

Was hat mich der Film gelernt? :

  • Die Rohen sind die Ehrlichen
  • Die Anständigen sind total verlogen
  • Männer sind sexy, aber wenn man sich mit ihnen einlässt, ist der Spaß (und womöglich das Leben) vorbei.

Das waren die Piratenkönigin und ich, mit 12, total verliebt und total wütend.

Welche Geschichte das Filmstudio erzählen wollte, weiß ich nicht. Vielleicht meine, bemäntelt mit der moralischen. Oder vielleicht die moralische, mit einem Ausflug ins Erotische und Exotische.

So ein bisschen verliebt und wütend war ich heute auch wieder.

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Kommentare

Eine Antwort zu „Die Piratenkönigin und ich (mit 12)“

  1. micha

    Die Geschichte der 12-jährigen Ulla ist viel besser! Die Theorie, dass die Moral nur ein aus Opportunitätsgründen umgehängtes Mäntelchen ist, gefällt mir gut.

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