No U-Turn

Eine häufige Nebenwirkung von Berlinale heißt Neugier auf alle Menschen. Diese liegt z.B. vor, wenn man auf einmal unbedingt mehr wissen will über den mittelalten Mann am Fast-Food-Stand in der Mall of Berlin, und neugierig ist, was er wohl so denkt, und ob er zufrieden ist, und wie sein Leben so verlaufen ist und solche Sachen. Und wenn man findet, es müsste jetzt unbedingt jemand einen Film über diesen Typen am Curry-Stand machen.

Der akute Ausbruch von Neugier auf alle Menschen wurde ausgelöst vom Film No U-Turn. Ein echtes Highlight, in dem sich der End-Vierziger Regisseur (ein sanfter Bär) auf die Landroute begibt, die  Menschen aus Nigeria nehmen, die nach Europa auswandern wollen. Der Regisseur hat sich vor 25 Jahren selbst auf die Reise nach Europa begeben.  Auf einem Zwischenstop in der Malischen Hauptstadt Bamako hat er sich dann aber zum Abbiegen nach Gambia entschieden, wodurch sein Leben die entscheidende Wendung zum Filmemachen nahm. Er bedankt sich dafür mit einer sehr schönen Liebeserklärung an Bamako.

Die Frage, wie das Leben verlaufen wäre, wenn man die eine zentrale Entscheidung damals anders getroffen hätte, wie die Parallelwelt aussähe, in die man damals nicht abgezweigt ist, kann ich sehr gut nachvollziehen, und auch die Erinnerungen des Regisseurs an die Aufregung und das Gefühl von Abenteuer beim Aufbruch ins Ungewissene, Offene, Unbestimmte.

Überhaupt haben die Menschen, die der Regisseur auf der Reise trifft, vor allem eine große Neugier, Hoffnung, Tatendrang und Abenteuerlust. Sie sind also gar nicht die von Elend getriebenen armen Opfer, als die man sie hier (in den Nachrichten und auch in den Darstellungen von Hilfsorganisationen) in der Regel sieht. Irgendwie ist das, glaubich, wichtig. Selbst die beiden Frauen, die in Casablanca (dort – bzw. in der Rückdeportation nach Nigeria – endet für Viele dann die Reise) auf der Straße betteln, sind die totalen Macherinnen. Nicht auszudenken, was die alles schaffen könnten, wenn man sie nur ließe. Das ist also diese ganze Weltungerechtigkeit auch noch: eine große Verschwendung.

Nicht nur vor dem Mittelmeer „stranden“ viele Reisende, sondern entlang der ganzen Route finden sich Aufgebrochene, die irgendwie hängen geblieben sind, und damit mehr oder (meist) weniger ihren Frieden gemacht haben. Darum geht es dann auch ein bisschen: seinen Frieden zu machen mit dem eigenen Leben, so wie es nun mal gelaufen ist mit allen komischen Zufällen, Unzulänglichkeiten und Planänderungen. Dabei stellt sich heraus: zur Familie zurückzukehren, ohne „Erfolg“ (d.h. wohl: etwas Vorzeigbares, etwas, das man mitbringen kann, ein Zugewinn) wäre für alle Protagonisten so eine riesige Schmach, dass es sie z.B. zum Bleiben an einem unguten Ort bewegt. Das Gefühl, ohne „Erfolg“ nicht zurück zu können, bestimmt ihre Entscheidungen. Das scheint mir auch wichtig zu sein.

Also: mindestens zwei wirklich wichtige Dinge gelernt in diesem Film, und einen hoffentlich länger andauernden Anfall von Neugier auf alle Menschen gehabt.  Außerdem viel aus Gegenden gesehen, wo man sonst nie hinkommt. Großes Kino.

 

 

 

 

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