Über die Jahre

Mit meiner zweiten Filmauswahl bin ich in eine Langzeitdokumentation geraten, die es (in positiver Hinsicht) mit „Ecke Bundesplatz“ oder den „Kindern von Golzow“ aufnehmen kann: Über die Jahre von Nikolaus Geyrhalter. Es dreht sich um die Jahre 2004 bis 2014 in denen im österreichischen Waldviertel, was so etwas ein nördliches Zonenrandgebiet zu Tschechien ist, wo 8 Kollegen dabei periodisch beobachtet werden, wie es ihnen ergeht, als die TextilFabrik in der sie gemeinsam arbeiten, langsam geschlossen wird, es keine neue Arbeit gibt, und der Mensch ja trotzdem ja irgendetwas tun muss. Der Film beginnt zunächst mit Einblicken in die letzten eher unproduktiv erscheinenden Arbeiten in der noch funktionierenden Fabrik, in der Kunststoffgarne hergestellt, gesponnen, gefärbt, gewoben, als Ballen und Windeln verpackt und verschickt werden. Es werden Buchhaltungsvorgänge dazu gezeigt, die seltsam starr anmuten, wenn die Bedienung einer mechanischen Maschine im Vordergrund steht. Ebenso die Telefonate, die eher an die Bedienung einer grossen Rechenmaschine erinnern, da das Drücken grosser Knöpfe die wichtigste Funktion zu sein scheint, die übermittelten Kurzansagen eher nur Hinweise zu sein scheinen. Mag sein, dass früher Technik so gewesen ist, dann hat sie aber auch die Menschen, durch die sie bedient werden musste, stark geprägt.

Folgerichtig scheinen auch die von einigen Menschen ausgeübten Hobbies seltsam starr und eintönig zu sein. Einer nummeriert und archiviert seine 800 Stück umfassende CD-Sammlung, deren ca. 14000 Titel er alle aufzuschreiben vorhat. Er sammelt im Garten Brennholz, dass er sorgfältig auf gleiche Länge zerkleinert und minutiös an der Hauswand aufstapelt, nach verschiedenen Durchmessern sortiert. Bei der letzten Begegnung mit der Kamera hat er seine Worte in gereimte Selbst-Reflektionen verfasst, die er (noch) abliest. Andere lieben die Wiederholung des immer gleichen Tagesablaufes, so seltsam, dass es fast wehtut, bis man sich fragen muss, ob und wo man sich selbst vielleicht auch so etwas antut, ohne es zu merken.

Der erwähnte CD-Archivar und Holzaufstapler war bei der Filmvorführung anwesend, er trug danach ein minutenlanges, selbstverfasstes Gedicht mit mehreren Pointen auswendig vor.

Vielleicht liegt darin die Grösse dieses übrigens ausverkauften Filmes: aus kleinen aber beharrlichen Beobachtungen von Einzelheiten auf grössere Zusammenhänge zu schliessen, die uns sonst verborgen geblieben wären. Und auf jeden Fall ist dieser Film ein Zeitdokument.

Unglaublich wohltuend, dieses Thema einmal von einer menschlichen Seite ohne Überlagerung mit ost- und westdeutschen Befindlichkeiten gezeigt zu bekommen.

 

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