Filmstunde_23

Heimat habe ich in den 80er Jahren zweimal komplett gesehen: einmal 1984 noch bei meinen Eltern wohnend, und dann 1985 oder 86 in London in der BBC. Besonders beim zweiten Mal war es eine ganz starke Erfahrung, die mich bis heute prägt. Deswegen fand ich die Idee cool, Herrn Reitz bei der Verleihung der Berlinale Kamera mal persönlich zu sehen – verbunden mit der Vorführung seines Films Filmstunde_23. Beides – die Verleihung und der Film – waren ein tolles Erlebnis.

Zur Verleihung gab es zwei ganz ordentliche, kurz gefasste Laudator*innen und eine Dankesrede vom Meister. Herr Reitz ist mittlerweile 90 Jahre alt, bewegt sich langsam, ist aber sehr wach. Seine Rede war total überraschend. Man ist mittlerweile völlig unvorbereitet darauf, eine Rede zu hören, die vom ersten Satz an nur prägnanter, klar formulierter Inhalt ist. Kein einziger Satz Geblubber, Gesülze oder Bullshit, kein einziges Buzzword, keine Phrase – wann habe ich das das letzte Mal erlebt? Der Mann hat Goethe zitiert, und es war nicht lächerlich. Es war irritierend und großartig und wohltuend wie kaltes, klares Wasser.

Dann der Film, den die beiden Regisseure dauernd als „kleinen“ Film bezeichneten, den ich aber gar nicht klein fand – hat vielleicht wenig gekostet, aber unschätzbar ist seine Ressource, nämlich eine normale Schulklasse wieder zusammen zu bekommen, die Herr Reitz 1968 (als Experiment) im Fach „Film“ unterrichtet hat, was (natürlich) damals selbst wiederum gefilmt und zu einem Film verarbeitet wurde („Filmstunde“). Die Regisseure konnten nun also beliebig zwischen den Aufnahmen einer Schülerin als 13-Jähriger und der selben Person als 68-Jähriger hin- und her schneiden. Phantastisch. Und Herr Reitz sinnierte klug über Zeit und was wohl das Konstante an einer Person sein mag. Außerdem durften wir Ausschnitte aus den Filmen sehen, die die Mädchen damals gedreht haben. Das war spaßig und erstaunlich originell. Was nicht alles in jedem Menschen steckt, wenn man sich nur genug Zeit nimmt, es aus ihm/ihr zusammen herauszuholen! Und irgendwie hat es Herr Reitz 1968 hinbekommen, dass die 13-jährigen Teenager überhaupt nicht nervig und blöd waren, sondern interessante junge Menschen. Wow.

Also: überhaupt nicht klein, sondern ganz großes Kino. Danke, Danke, Berlinale!

In der Diskussion anschließend ging es dann darum, dass es (seit dem 1968er Experiment) keinerlei Filmunterricht an den Schulen gäbe. Das finde ich nicht ganz fair, immerhin gibt es mittlerweile einen ganzen Berufsstand, der Medienpädagog*innen heißt und in Medienwerkstätten, Jugendzentren und Bibliotheken mit Jugendlichen arbeitet. Ok, meist außerhalb des Schul-Curriculums, aber trotzdem.

 

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