… in aller Kürze und bevor dann vielleicht doch noch ausführlichere Besprechungen kommen, denn nun musste ich am Sonntag statt Schreiben mal etwas telefonieren am Vormittag, und dann gings zum abschliessenden Film Espoir Voyage ins Delphi. Und ab dann wartete der Alltag…
Also: was war die diesjährige Berlinale? Erfreulicherweise kein Total-Ausfall und ein paar Filme, die in Erinnerung bleiben werden.
Viele Dokumentationen (10), bei denen etliche unter dem Aspekt der Machart interessant waren:
– Bagrut Lochamim war ein Lehrstück in Sachen Verfasstheit der israelischen Armee bzw Gesellschaft. Im Angesicht unserer Neo-Nazi-Katastrophen hier in Deutschland sehr sehr aufschlussreich. Hoffentlich kommt er ins Fernsehen. Sollte er im Kino landen: unbedingt empfehlenswert, insbesondere wegen der Thematik. Zu dieser ist in der aktuellen Ausgabe von "Le monde diplomatique" auch ein passender aufschlussreicher Artikel Kafka im Westjordanland. Wer ihn sehen will: kommt im Berlinale-Wiederholungsprogramm des Arsenal am 21.2. nochmal um 21 Uhr.
– Escuela normal ist ein gelungener Film und gibt einen fernseh-geeigneten Einblick in den Alltag einer argentinischen Schule – und wirft ein Schlaglicht, wie weit Demokratie in Argentinien mittlerweile gediehen ist.
– Hiver nomade weil wir die ganze Zeit wie selbstverständlich dabei sein dürfen – und erst mit etwas Abstand wird klar, dass es etwas Besonderes ist, hier so selbstverständlich zuschauen zu dürfen. Dass der Film zu unserem Interesse am Nomadischen passt, keine Frage. Dass der Film von einem Musiker und Komponisten gemacht wurde, wundert nicht mehr, wenn man über den stilsicheren Einsatz der Musik und der Schnitte nachdenkt. Und alles weitere hat ja Ulla schon gesagt! Wer ihn sehen will: er kommt im Berlinale-Wiederholungsprogramm des Arsenal am 22.2. nochmal um 19 Uhr.
– Habiter/Construire wegen des Themas des Flechtens und der traditionellen Mühlsteine, zu denen seit Generationen gegangen wird zum Mahlen. Hintergrund: Video-Künstlerin besucht ihren Mann, der an dem Strassenbauprojekt in der Wüste des Tschad beteiligt ist undsoweiter…
– Indignados – dazu habe ich schon geschrieben… (am Rande: warum in dem Artikel ein Absatz eine andere Schriftgrösse hat, habe ich immer noch nicht enträtselt)
– Jaurès wegen dem schönen Verwirrspiel mit Realität: was dokumentiert denn eine Dokumentation und mit Empathie: wie entsteht sie? Und damit als Film schlicht gelungen!
– in arbeit wegen der rückbesinnung auf gute alte alternativ-traditionen, auch wenns an bisschen an schüler-ags erinnert – oder muss das vielleicht sogar?
– Die Kinder vom Napf hätten wir uns auch irgendwann im TV anschauen können, wenn wir überhaupt noch eins hätten, aber dann hätten wir den Auftritt der Kinder nicht gehabt und wüssten jetzt nicht, dass Mausefallen namens Top-Cat echt teuer sind und die hörbare Begeisterung des Publikum hätten wir auch verpasst. Auf das drohende Aussterben einer Lebensform anhand ihres-noch-existent-seins hinzuweisen war zusammen mit den Bergen als Hintergrund gut in Szene gesetzt – auch wenn das sicher viele andere Dokus auch schon geschafft haben.
– Die Lage von Thomas Heise, weil ich endlich mal einen Thomas-Heise-Film im Kino sehen wollte. Wie erwartet war er solide: er zeigt die Vorgänge hinter dem Papst-Besuch in Erfurt und damit ein Bild über die Verfasstheit (Die Lage) unsere Landes und im Fernsehen kommt er bestimmt (hoffe ich doch) und ist dort sicher auch besser als die sechsundzwanzigste sensations-orientierte Polit-Doku; meine Neugier ist befriedigt.
– Mustafas Sweet Dreams ist ein ganz gelungener Film, die Geschichte ist interessant und uns hat die Region interessiert und es gibt zauberhafte Bilder vom papierdünnen Yufka-Teig-Machen. Er scheint mit vielen dokumentarischen Abschnitten durchsetzt und wohl mit Laien gedreht – aber das Etikett Dokumentarfilm nehm ich ihm nicht ab. Das ist auch eigentlich egal, wenn der Film Spass gemacht hat – es wirft aber ein Fragezeichen aufs Generation-Auswahlkommitee, denn das hätten die doch auch sehen müssen?
– Revision lässt einen verstört zurück – so erschütternd ist das was gezeigt wird. Um die Zeit der rechtsfreien Zone und gruseligen Übergriffe in Rostock-Lichtenhagen werden zwei rumänische Rom an der deutsch-polnischen Grenze erschossen und bis heute ist kein Täter ermittelt bzw verurteilt. Bis heute wurden den Familien auch keine Informationen über die Vorgänge ermittelt oder sie zu Aussagen eingeladen geschweige denn eine Gelegenheit gegeben oder darauf hingewiesen, Entschädigungen oder Schmerzensgeld zu beantragen. Im Film entwickelt sich eine Art Ermittlungs-Geschehen, das sich aus den immer unglaublicheren nicht erfolgten Untersuchungen ergibt. Ein beeindruckender, auch filmisch gelungener Film: im Filmgespräch wird die eingesetzte Technik, aufgenommene Interviews sofort im Nachherein mit dem/den Interviewten anzuhören, ausführlich erläutert. Im Film sind die Interviews oft aus dem Off und dazu die Bilder der Zuhörenden zu sehen, was eine beabsichtigt sehr intensive Wirkung hinterlässt. Den Filmemachern Philip Schefner (Buch und Regie) und Merle Kröger (Buch) ging es dabei um die Bewußtheit bzw Reflektiertheit der gemachten Äußerungen und genau diese Wirkung machts auch. Und hier auch zu diesem Film noch ein Bezug zum Aktuellen: ein Artikel aus dem Tagesspiegel.
– Le sommeil d’or: dazu gibts hier schon einiges und auch ich fand ihn sehr interessant und anrührend und bin froh, ihn bei der Berlinale mit dem interessanten Gespräch mit dem gewinnenden Regisseur gesehen zu haben. Wer ihn sehen noch will: er kommt im Berlinale-Wiederholungsprogramm des Arsenal am 24.2. nochmal um 21 Uhr.
Der Spielfilm-Blick in die Welt des Fremden – das waren in diesem Jahr nur zwei "neue" Filme:
– The Mirror never lies ist ein kluger schöner Film mit phantastischen Bildern einer aussterbenden Lebensweise und Findet-Nemo in echt (wirklich! Filmtier-Listen-Ergänzung: Clownfische und Korallen!)… ist übrigens zusammen mit dem WWF und einer indonesischen Naturschutz-Organisation entstanden und hat den Zweck, für die bedrohte Situation des Volks der Bajos und der Region in Süd-Sulawesi etwas zu tun – und hat auch mal wieder was mit Nomaden (in diesem Fall den See-Nomaden) zu tun. Und im Publikum gabs Szenen-Applaus und hinterher einen Begeisterungs-Sturm mit Popstar-Atmosphäre… gerade frage ich mich: warum ist der eigentlich nicht Gewinner des Generation-Bären geworden? Zum Zeitpunkt der Vorführung gabs übrigens noch keinen Verleih; über sowas wundere ich mich dann schon.
– Lal Gece hat uns sehr beeindruckt und nachdenklich zurückgelassen – und ist Gewinner des Generation-Bären, wenn man diesen Preis so nennen darf.
und vier aus der Filmgeschichte:
– Brand X
– Der Weg ins Leben
– The Connection
– Ornette: made in America – unbedingt sehenswert, wird im Arsenal-Wiederholungsprogramm am 25.2. nochmal gesendet. Da haben wir richtig viel dazugelernt über Ornette Coleman und Buckminster Fuller und die anspruchsvollere amerikanische Musik überhaupt! Ein Film, in dem die Dokumentation zum fiktionalen Film gerät durch Schnitt-Technik und Komposition, wirklich sehr kunstvoll! Wer ihn sehen will: er kommt im Berlinale-Wiederholungsprogramm des Arsenal am 25.2. nochmal um 20 Uhr… aber vielleicht sitzt ihr ja dann schon in meinem Chor-Konzert?
Filme, von denen man denkt, die könnte ich mir doch auch nach der Berlinale anschauen und wo dann klar wird, wie gut es war doch jetzt geschaut zu haben:
– La mer a l’aube im Film-Gespräch mit Schlöndorff im Anschluss und dem Publikums-Beitrag von David Bennent dazuwird deutlich, dass der Film nur ins Fernsehen kommen wird (wenn ich richtig verstanden habe, wird er am 23. März bei Arte gesendet) und es schwer war, eine Finanzierung aufzutreiben. Ich finde den Film um etliches besser als das, was sonst an Filmen über Geschichte im verknoppten öffentlich Rechtlichen gesendet wird.
… und hatte ich willentlich ausgesucht, dass immerhin acht der Filme von Frauen gedreht bzw. verantwortet wurden?
Ach, und in den Arsenal-Wiederholungen gibts dann auch noch Bestiaire (darüber hatte Micha schon geschrieben), Beziehungsweisen (über den hat mir Markus Lobendes erzählt) und in der in jedem Jahr üblichen Wiederholung der Forums-Retro The Sun in the last Days of the Shogunate, über den eine Filmbesprechung sagte, dass er wohl zu den 10 wichtigsten Filmen in Japan gezählt wird.