In den albanischen Berge schneit es immer, und das soziale Klima ist keins, in dem junge Frauen viel Wahlfreiheit haben. Die Mütter geben die Regeln auf den Weg: geht nicht allein in den Wald, macht keine Männerarbeit, sprecht nicht vor den Männern, esst nicht vor den Männern usw. Väter geben eine Gewehrkugel in die Aussteuer, mit denen der Ehemann die Frau erschießen darf, wenn es Grund zur Beschwerde gibt. Frauen, die das nicht ertragen, haben genau zwei Möglichkeiten: weggehen oder als Mann leben. Letzteres erfordert allerdings den Schwur, auf immer enthaltsam zu sein.
Vergine giurata beginnt damit, dass Mark, ein junger Mann aus den Bergen weggeht und nach Italien reist. In der Wohnung von Lila wird er ein wenig widerwillig aufgenommen. In Rückblenden wird die Geschichte der beiden Frauen erzählt: sie sind Ziehschwestern, Lila ist mit dem Mann, den sie selbst ausgesucht hatte, abgehauen, Hana hängt am Ziehvater, der sich heimlich einen Sohn wünscht, und wird mit seiner Hilfe zu Mark. Die Rückblenden wechseln sich ab mit der Entwicklung, die Mark/Hana fern von den albanischen Bergen durchmacht, es gibt da die rotzige Teenietochter von Lila, einen Bademeister (schon wieder Lars Eidinger in einer Toilettensexszene, bei der mich eher ein wenig gruselt, als dass ich eine neu entdeckte Selbstbestimmung wahrnehme, um die es aber geht), schöne Schwimmbadaufnahmen (die Tochter macht Synchronschwimmen, super!), und am Ende singen die Schwestern gemeinsam ein schönes Lied.
Toller Film in dunkeltürkis, tolle Figuren, und die Hauptdarstellerin Alba Rohrwacher wurde völlig zu Recht überall gelobt, ich würde ihr den silbernen Bären für die beste Darstellerin sehr gönnen.
Kommentare
5 Antworten zu „Vergine Giurata“
Dieser Film musste ins Programm, als Gegenstück zur Piratenkönigin. Immerhin geht es um das selbe Thema: Wähle zwischen „Frau sein/Sex haben“ und „deine Welt gestalten“. Anne of the Indies gibt die Kinder-Antwort „Fuck you, da gehe ich lieber unter“. Hana/Mark gibt die erwachsenere Antwort; sie besteht darin, das eben nur als Mann selbst gestaltete Leben im grandiosen albanischen Gebirge einzutauschen gegen einen Nachtwächterjob in einer Mailänder Tiefgarage und sprachlosen Sex mit dem Bademeister im Heizungskeller. Hm. Gefällt mir beides nicht.
Aber die Hauptdarstellerin war toll, da gibt es keine Frage.
Och, den Bademeister – der tatsächlich nichts von einem Traumprinzen hat – und die Tiefgarage habe ich nur als Experimentierfeld und Durchgangsstation gesehen. Eine so starke Frau bleibt dabei ganz bestimmt nicht stehen.
Die grosse Leistung dieses Filmes war für mich, nicht das Leben unter einfachen Bedingungen in einer abgeschiedenen, rückständigen Welt gegen das Leben in einer großstädtischen, modernen Umgebung aufzuwiegen – sondern die Frage nach den Bedingungen persönlicher Freiheit zu verhandeln.
Tauschwerte sind dabei zum Beispiel: die Aufgehobenheit in der schwesterlichen Familie gegen die Einsamkeit des Lebens der Protagonistin an ihrem Herkunftsort. Diese wird umso grösser als ihre wichtigsten Anker: Onkel und Tante, verstorben sind und sie ist nicht nur räumlich sondern auch emotional und sprachlich. Nicht einmal der ebenfalls als Vergine Giurata lebender Pal ist ansprechbar für sie.
Oder die Schönheit der Natur und ihrer Bewohner – hier: kräftige dunkle Ziegen und ihnen ähnliche Menschen – gegen die Zumutungen der Schlafstädte im Speckgürtel von Mailand und die Häßlichkeit der Arbeitsorte ihrer Bewohner: Tiefgaragen, Schwimmbäder undsoweiter.
Oder die verschiedenen Vorstellungen von Körperlichkeit oder Arten des Zulassens von Körperlichkeit in den beiden gegenübergestellten Gesellschafts-Bildern. Da sind die synchronschwimmenden, ganzkörperrasierten Industriekultur-Abziehbildchen-Mädchen plötzlich trotzdem ganz individuell schön oder häßlich – ebenso die Männer und Frauen in den albanischen Bergen.
Und ganz zum Schluss wird dann denkbar, dass die erste Hetero-Sex-Erfahrung und die Nachtwächter-Arbeit auch nur Durchgangs-Stationen der Protagonistin sein könnten zu was auch auch immer: das Leben geht weiter in jedem Fall. Die eine der Schwestern fasst es so zusammen: Ich dachte, wenn ich weggehe, werde ich jemand anders. Die andere ist dabei zu entdecken, was sie ist oder sein könnte.
Sicher ist, dass die beiden stark sind und ihren Weg gehen und das Lebendigsein geniessen wollen, widrige Umstände hin oder her – das war für mich eine sehr schöne Perspektive.
Von mir aus der der Film alle möglichen Preise haben.
Hey Uta, nichts gegen Synchronschwimmen! Klar sieht das künstlich und merkwürdig aus, aber ich mochte gerade diese Aufnahmen sehr – zuerst von unten sehen zu können, welch kraftvolles, ungraziöses Strampeln unter Wasser notwendig ist, um über Wasser harmonische, synchrone Bewegungen zu ermöglichen, war doch ein richtig starkes Bild!
Ansonsten bin sehr bei Dir, dass in den Bergen zwar die Landschaft großartig ist, die Gestaltungsmöglichkeiten des eigenen Lebens sich aber auch für geschworene Männer in sehr engen Grenzen bewegen.
Viele der Dinge, die wir Menschen so tun – egal wo auf dieser Welt – wurden von ihrer beeindruckenden Seite gezeigt für meinen Eindruck – so eben auch das Synchron-Schwimmen 🙂
An vielen Stellen wurde für mich die Kraft und die Autonomie der Personen und ihre Fähigkeit zu Mitgefühl und Liebe und Eigenständigkeit sichtbar.
Daß die Mädels allerdings auch alle Klischees des Mädchen-Bild-Modern in ihren quietschbunten Minimal-Swimsuits und der Unterordnung unter ein Grosses Ganzes, mit der ganzen Schminke im Gesicht und den rosafarbenen Ornament-Nasenklammern und Spitzen-BHs erfüllten, gehört ja eben auch dazu…
Einen starken Moment fand ich in dieser Beziehung, wie die Protagonistin Hana/Mark ganz zu Anfang des Filmes die Schönheit einer wilden, widerständigen Ziege lobt und gegen Ende des Filmes die Tochter ihrer Ziehschwester als begeisternden Wirbelwind bezeichnet – die Begeisterung und den Respekt für Kraft und Widerständigkeit in einen solchen Konnex zu bringen, gefiel mir!